Endlich war ich aus meinem Elternhaus ausgezogen und hatte ein kleines Zimmer in Hamburg-Fuhlsbüttel bezogen. Hier in Fuhlsbüttel kannte ich keinen Menschen. So ging ich manchmal nachmittags in ein nahes Eiscafe mit integriertem Imbiss. Bald schon lernte ich dort einige Leute kennen. Zunächst einmal Walter, einen niedlichen kleinen Rentner, der wie Henry Vahl aussah. Er wohnte in einem kleinen Haus im Garten einer Hausbesitzerin und flirtete mit mir auf Deubel komm raus. Er gelobte feierlich, er würde mich noch einmal vernaschen, so wahr er Walter Petschow hieße.
Walter war täglich in der Eisdiele. Am glücklichsten war er, wenn er Rente bekommen hatte. Dann warf er mit der Kohle nur so um sich und gab jedem den er mochte einen aus. Das ging ungefähr vier bis fünf Tage so, dann war er wieder pleite und wartete auf den nächsten Monat. So lange allerdings wurde er dann von seinen Freunden und je- dem, der einmal etwas Geld hatte, freigehalten. Jeder kannte Walter, denn er gehörte zum Inventar.
Dann war da noch Fiete. Fiete gehörte auch zum Inventar, jedenfalls Wochentags nach Feierabend und am Sonntag. Samstags war das Eiscafé geschlossen. Das war ein sehr harter Tag für uns alle, und wir sehnten uns nach dem Sonntag, um zu Hans, dem Be- sitzer der Eisdiele, gehen zu können und ihn schon von morgens an mit unserer Anwe- senheit zu beglücken.
Hans war ein für mich damals sehr alter Typ, so um die vierzig und war ein arger Schwerenöter. Jedes Girl, jede Frau wurde von ihm auf eine unglaublich charmante Art angebaggert. Er hatte große blaue Augen, war selbst eher klein und hatte eine Glatze, was ihn nicht davon abhielt, sie seiner Meinung nach recht geschickt unter einer kunst-voll über die Platte gelegten Haarsträhne zu verbergen.
Verließ er den Laden, prüfte er die Windrichtung um so das den Kopf in die richtige Richtung zu halten. Trotzdem passierte es manchmal, dass der Wind die Wahrheit an den Tag brachte. Das war ihm natürlich unheimlich peinlich, aber nur er nahm Anstoß an seiner Glatze. Gäste und Freunde, vor allem die Frauen, interessierten sich nicht im Geringsten dafür. Er war eben Hans, und Hans wurde von allen geliebt. Im Gegensatz zu Klärchen, seiner Frau die ein arger Besen war, und die Gäste sahen sie lieber gehen als kommen.
Das tat sie dann auch jeden Abend um siebzehn Uhr und schon wurde es urgemütlich bei Hans im Eiscafe.
Die alte Wurlitzer wurde auf Dauerbetrieb gestellt, es wurde frei Haus geschwoft, gesoffen und selten etwas gegessen. Hans kam so richtig in Fahrt. Um einundzwanzig Uhr wurde der Laden geschlossen, und dann ging es erst richtig los.
Dann war da noch Rosi, Walters Tochter. Sie wohnte einige Zeit bei ihrem Vater in der Hütte. Rosie hatte die wunderschönsten, mandelförmig geschnittenen, grünbraunen Augen die ich je gesehen hatte. Mit Rosi, die nur zwei Jahre älter war als ich, freundete ich mich sehr schnell an. Oft kam es vor, dass wir nach einer durchzechten Nacht in al- ler Frühe in den Alsterpark gingen. Dort setzten wir uns an den Karpfenteich, genossen die kühle Luft und ließen den Vorabend noch einmal Revue passieren. Wenn die Enten erwach- ten, ahmte Rosi die Sprache von Donald Duck nach, und siehe da, die Erpel ver-standen diese Sprache und liefen uns in Scharen nach.
Walter, Fiete, Rosi und ich waren sozusagen der harte Kern bei Hans. Es gab noch einige andere Leute, die mehr oder weniger oft dort hingingen, aber sie gehörten nicht zu der sogenannten Stammmannschaft wie wir vier.
Eines Abends machte Hans den Vorschlag, doch mal wieder zu Toni und Nelli zu ge-hen. Diese beiden kannte ich noch nicht und fragte, wer und wo das sei. Mir wurde erklärt, dass Fuhlsbüttel so etwas wie eine anrüchige Dorfkneipe besaß, die „Bodega“. „Oh ha, also eine halbseidene Kaschemme, und ich hatte noch nichts davon gewusst.“
So zogen wir los zum Fuhlsbüttler Damm, zur besagten Kneipe. Schon von außen wirkte der Laden recht seltsam. Neben der total verschmutzten Eingangstür ein ebensolches Fenster mit dunkelgrauen Gardi- nen. Als ich den Laden betrat, schlug mir eine Mischung aus Muff, Geruch von schalem Bier und die dicke Rauchwolke einer Rothändle rauchenden, hageren Frau hinter einem langen Tresen bei schummriger Beleuchtung entgegen.
Das mußte Nelli sein. Als sie Hans sah, kam sie freudestrahlend um den Tresen herum und rief mit tiefer rauer Stimme: „Mensch Hans, du alter Schweinekopf, krieg ich dich auch mal wieder zu sehen?“ Ich mußte lachen und freute mich auf das was da noch kommen sollte.
Hans lächelte charmant wie immer, murmelte etwas von: „Ach Toni, viel Arbeit, Klärchen und so, du weißt doch....“, und bestellte erst einmal eine Lokalrunde. Das war für ihn nicht besonders teuer, denn das Lokal hatte außer uns nur noch einen weiteren Gast, so dachte ich jedenfalls. Ein kleiner, etwas dicklicher Mann, in abgetragenen Manchester hosen und einem karierten, kaputten Hemd. Er saß am Tresen, grinste dümmlich aber nett und trank ne Pulle Bier. „Tag Nelli“, hörte ich Hans sagen und fragte mich, ob Hans wohl schon etwas zuviel getrunken hätte, da er diesen Typen mit Nelli und die Frau mit Toni ansprach. Ich klärte ihn über sein Missverständnis auf. Erstaunt sah er mich an, dann prustete er los, denn die Frau hieß tatsächlich Toni und der Mann Nelli.
Toni war die Besitzerin des Schuppens, und Nelli erledigte für Bier, Unterkunft und täglich einen Teller warmes Essen alle anfallenden Arbeiten im Hause. Vor Jahren war dieser Schuppen eine gutgehende Pension mit Restaurant und Bar im Kaminzimmer gewesen. Doch der Laden war immer mehr heruntergewirtschaftet worden und verkam zusehends.
Diesen ersten Abend bei Toni und Nelli werde ich nie vergessen.
Hans und Toni warfen eine Runde nach der anderen. Zwischendurch ließen Fiete und Walter sich auch nicht lumpen, und so hatten wir alle nach einer gewissen Weile ordentlich einen im Kahn.
Jeder redete mit jedem.
Walter philosophierte mit Fiete über den Sinn des Lebens an und für sich, und Toni hörte ich angeregt mit Hans über ihre Nasennebenhöhle plaudern. Nelli saß immer noch am Tresen, grinste dümmlich aber nett, und Rosi erzählte mir von ihrem Geschiedenen, in den sie immer noch hoffnungslos verknallt war.
Walter nickte zwischenzeitlich immer mal etwas ein, während Toni bei ihren Krampfadern angelangt war. Nur Nelli murmelte mit sich allein und grinste weiterhin dümmlich aber nett. Hans stand neben Nelli und klopfte ihm zwischendurch immer mal wieder beruhigend auf die Schulter, wobei er „schon gut Nelli, wird schon wieder Nelli“, vor sich hinbrab- belte. Nelli selber grinste weiterhin dümmlich aber nett.
Zwischendurch schickte Toni immer mal wieder eine Runde ihrer absoluten Horrormi- schung: Weinbrand mit je einem gehörigen Schuss Gin und Aprikotbrandy zu uns rüber, wobei sie jedem, dem sie ein Glas reichte, schicksalsschwanger tief in die Augen schaute, um dann verschwörerisch mit einem zusammengekniffenen Auge zu lächeln. „Trink meine Süße“, oder „trink mein Süßer“ war einer ihrer Standartsätze.
Plötzlich wankte Walter an mir vorbei, säuselte ein nuscheliges „gute Nacht Helga“, und verschwand Richtung Tür. Ich erkannte gerade noch, dass draußen zwischenzeitlich eine Menge Schnee gefallen war, bevor sich die Tür hinter ihm schloss.
Der erste Schnee! Dieses Ereignis wollte ich mir ansehen. Leicht schwankend verließ ich das Lokal. Es schneite wie wild, und ein starker Wind war aufgekommen. Da ich alles doppelt sah, hielt ich mir ein Auge zu und blickte die Straße entlang.
Jetzt konnte ich Walter sehen, keinen Augenblick zu spät, denn er machte gerade mit weit ausgestreckten Armen eine Schwalbe in eine Schneewehe, dann war er nicht mehr zu sehen. Ich wartete, aber er blieb verschwunden. Also stapfte ich los und fand ihn friedlich schlafend, grunzend wie ein sattes Baby und lächelnd wie ein Honigkuchen- pferd im Schnee liegen. Was blieb mir übrig? Ich brachte ihn nach Hause, und so endete dieser Abend auch für mich.
Du hast diesen schönen Fuhlsbütteler Schwof so lebendig geschrieben, dass ich dachte, dabei gewesen zu sein. In den 70er Jahren war ich noch oft in Hamburg und ich habe Menschen wie den "Walter, Toni und Nelli" auch noch sehr gut in Erinnerung...ebenso wie die unverwechselbaren heruntergekommenen, aber urgemütlichen Hafenkneipen. Danke Helga...hat großen Spaß gemacht zu lesen!
Lieber Gruß
Janet
Lächeln ist wie ein Fenster, durch das man sieht, ob das Herz zu Hause ist.
(aus Russland)
helga
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30.09.2006 21:48
#3 RE: Fuhlsbüttel Anno 1970 oder ein Schwank aus meiner Jugend
Danke dir Janet. Tja, das war damals eine wilde Zeit
Interessant finde ich, dass du damals in Hamburg warst. Hast du hier gelebt? Oder nur ab und zu hier gewesen? Und vor allem wo hast du denn gewohnt? Bin nun ganz neugierig geworden.
Von den Hafenkneipen hier ist leider fast nichts mehr übrig- geblieben. Alles verändert und auf Neu getrimmt. Ich finds schade. Auch das Fuhlsbüttel hat sich total verändert. Kneipen findest du hier auch keine mehr. Allerdings gehe ich nun auch gar nicht mehr in Kneipen.
Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat, das tut mir immer gut
mhm, bei mir ist es jetzt 4 Uhr 54, sollte im Bett liegen, aber Deine Geschichte war so anrührend schön, ich musste sie lesen und kommentieren. Ich hab das Gefühl, ich war mit euch "auf die Gass´" wie es bei uns heisst. Herrlich, liebe Helga. Wer möchte diese Zeiten missen? Egal wie verrückt sie waren. Man vergisst es nicht! Es ist ein kleines Stück Ehrlichkeit in einer verlogenen Welt. Und Melancholie und Sehnsucht nach vergangenen Tagen machte sich beim lesen in meinem Herzen breit. Du schreibst so wunderschön und fesselnd, Danke dafür!
Camaela
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Gast
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01.10.2006 18:30
#5 RE: Fuhlsbüttel Anno 1970 oder ein Schwank aus meiner Jugend
In Antwort auf:Steffi: Es ist ein kleines Stück Ehrlichkeit in einer verlogenen Welt.
Da möchte ich zweierlei drauf sagen: Jo, es ist selten, dass jemand offen und ehrlich aus seiner Vergangenheit schreibt. Es ist vielleicht schwer auszuhalten, was die anderen womöglich von einem denken. Und in den 70ern, der Zeit der HotPants (boah, ich trug sie damals), waren die Menschen trotzdem noch total verklemmt und du kannst dir sicher vorstellen, wie Rosi und ich verpöhnt waren damals, weil wir mit "alten" Männern durch die Ge- gend zogen, schon schlimm genug, dass wir mit ihnen sprachen und lachten......
Camaela: jo, die hamburger Deern ist auch heute nicht zu verleugnen, manchmal stolpere ich immer noch über den spitzen Stein und ich liebe das Hanseatische, Distanzierte aber total Ehrliche.
Es werden demnächst noch ein paar Fuhlsbüttler Geschichten folgen. Da gehts meißt nicht minder deftig zu.
Danke fürs lesen Ihr Beiden
Karin Lissi Obendorfer
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Gast
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02.10.2006 18:25
#7 RE: Fuhlsbüttel Anno 1970 oder ein Schwank aus meiner Jugend
Liebe Helga, mittdendrin im Geschehen habe auch ich mich gesehen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, haben sich durch deine Worte wunderbar durchgerungen. So viel menschliche Wärme strahlt aus deiner Geschicht´ daß darüber förmlich strahlte beim Lesen auch mein Gesicht. liche Grüße zu dir, Karin Lissi
der Schwang aus Deinem Leben ist 'ne Wucht. Du schilderst die Personen und die Handlung so lebendig und farbenfroh, daß bei mir ein Film abläuft. Ich bin als Zuschauer und Zuhörer mitten unter Euch. Walter, Fiete, Hans, Roso, Toni, Nelli und Klärchen sind leibhaftig vor mir. Bewundernswert, wie Du schreibst - eine Novelle erster Klasse (Fortsetzung folgt ?????). Wo kann man sowas lernen ?
Lieber Hinrich, danke für das tolle Kompliment, es hat mich wirklich sehr gefreut. Da tobte halt das wahre Leben und ich beschrieb es wie es war, das ist alles. Eine Fortsetzung wirds vielleicht geben, muß mal schauen ob es danach nicht eher langweilig wurde.....
Hallo liebe Helga!! Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen ,hat Spass gemacht zu lesen,Danke das Du uns an deinen schönen Erinnerungen teilhaben läßt!! Liebe Grüße frank