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 Lienhardstraße
  Wiese bis zum Horizont. Der Beifuß, von uns Kindern „Trümmerblumen“ genannt,  ging mir bis zum Scheitel, die Kletten, schwankend hoch über mir im Wind,  lauerten darauf, daß ich näher kam. Vor den Früchten der Kletten mußte ich  mich in acht nehmen, denn wenn ich ihnen zu nahe kam, sprangen sie – zack  und zwick – in meine langen Zöpfe und es gab lautes Schmerzgeschrei, wenn  meine Mutter versuchte, sie wieder herauszupulen. So mußte sie sie dann mit  einer Schere wieder herausschneiden - und das ergab wiederum lautes Wehgeschrei ihrerseits. Also versuchte ich ihnen auszuweichen. 
  Um mich herum sah ich undurchdringliches Gestrüpp. Doch da, links von mir,  öffnete sich ein schmaler Trampelpfad. Er führte mich auf ein Stück Kleewiese.  Von allen Seiten hörte ich das fröhliche Summen der Bienen und Hummeln,  die sich an dem Nektar der Blüten zu verschlucken schienen. 
  Vorsichtig, um keine Hummel zu zerdrücken, setzte ich mich ins Gras und  beobachtete die Heuschrecken - versuchte sie zu fangen, doch sie waren  schneller als ich, hüpften in lustigem Bogen kreuz und quer durch die  Luft, wenn ich versuchte, sie zu erhaschen, setzten sich unweit auf einen  Grashalm und ließen ihr „ätsch-ätsch-ätsch“ erklingen. Ich ärgerte mich  über ihren Spott und versuchte es wieder, mit dem gleichen Erfolg.
  Bei den Blüten der Disteln hielten sich immer die Schmetterlinge auf. Ich  liebte sie, stand ganz still und hoffte, daß sich einmal einer in mein  Haar setzen würde. Doch niemals kam mir einer nahe. So begann ich Blumen  zu pflücken, um sie anzulocken. Weißbraunen Klee, blauen Ehrenpreis,  gelbe Reseden, Schöllkraut und Hahnenfuß. Jetzt fehlten noch rote Blumen.  Ich streifte durch die Wiese. 
  Den zerbombten Bunker umkurvte ich dabei weiträumig. Hier waren nur  massenhaft Brennesseln und es stank ein wenig nach fauligem Wasser.  Dahinter verlief die Lienhardstraße. Sie zweigte gegenüber von Tante  Hinschs Haus von der Hellbrookstraße ab und lief mitten durch die Wiese,  teilte sie sozusagen in zwei Hälften und endete dann am Rübenkamp. 
  An der Lienhardstraße stand kein Haus, kein Baum, kein Garnichts. Nur  der Bunker lag ein paar Schritte neben ihr zertrümmert in der Wiese.  Die Straße selbst glich eher einer (wenn auch sehr kleinen) Hügellandschaft.  Tiefe Löcher mitten im Teer, die nach dem Regen bis zum Rand mit Wasser  gefüllt waren und viele große und kleine Pfützen bildeten. In jede mußte  ich reinpatschen und meine Mutter damit zur Weißglut bringen. 
  Doch jetzt waren hier keine Pfützen und ich eilte auf die andere Seite,  um nach roten Blumen zu suchen. Endlich fand ich eine Lichtnelke, aber  so richtig rot war die nicht, es mußte eine rotere her. Ab gings durch  die hohen Gräser. Da, ganz versteckt leuchtete es rot auf, ein Mohnblümchen  blühte stillvergnügt vor sich hin. Ich pflückte es und setzte mich selig  ins weiche Gras.
  Ganz ruhig war es hier, kein Geräusch, nur das der Grashüpfer, Bienen  und der dicken Hummeln. Ein Käfer krabbelte ungeschickt über die kurzen  Grashalme, dann verschwand er im Bodengewusel. Ich blickte nach oben und  blinzelte in die von der Sonne beschienenen zarten Rispen der Gräser.  Ein leichter Wind bewegte die Halme und wie ein Schleier bewegten sich  die hauchfeinen Härchen und leuchteten golden im Licht. Wie die Haare  der Prinzessin vom Froschkönig dachte ich und schlief auch schon ein.
  Kinderstimmen weckten mich. Verschlafen wunderte ich mich, daß ich mein  Kissen nicht finden konnte, dann merkte ich, wo ich war und blickte  suchend nach den Kindern. Sie saßen unweit von mir in einer Kleewiese  und flochten sich Ketten und Armbänder aus den Blüten.
  Eines der größeren Mädchen zeigte mir sehr geduldig, wie das ging, und  ich flocht meine erste Krone fürs Haar. Nun würden doch noch alle erkennen,  daß ich in Wirklichkeit eine richtige Prinzessin war, freute ich mich,  und machte mich mit Eifer daran, ein Armband zu flechten. Meine ungeschickten  Finger schafften es auch bald, und ich war glücklich als die Kinder mein Werk bewunderten. 
  Nun wollte ich schnell zu Tante Hinsch und Kuddel laufen. Sie waren  unsere ehemaligen Nachbarn und für mich mehr wie Vater und Mutter.  Vielleicht war Kuddel schon von der Arbeit nach Hause gekommen. Ich  wollte Tante Hinsch die Blumen schenken und Kuddel könnte mir eine  Geschichte erzählen. 
  Eigentlich hieß er ja Rudolf, aber Peter, mein Bruder, und ich hatten  ihn Kuddel getauft, weil dieses Wort ein Ausdruck aus dem Hamburger  Hafen für Kumpel und Freund ist. Da er mein und Peters bester Freund  war, hatte er den Namen von uns bekommen. 
  Er war der beste Geschichtenerzähler auf der Welt. Ich durfte auf seinem  Schoß sitzen und er erzählte mir die dollsten Sachen. Am liebsten hörte  ich die Geschichte vom kleinen Kohn, der in der winzigen Plastikhülle des  Rollobandes wohnte, genau dort, wo man ziehen mußte um das Rollo runter-  oder raufzuziehen. Er faßte dann die kleine Hülse an und fragte mich:  "hast du heute schon den kleinen Kohn gesehen?" "Nein," sagte ich und  schaute neugierig zu wie er die Hülse etwas nach oben bog um selbst  hineinschauen zu können. "Ach, da ist er ja, der kleine Kohn. Hallo Kohon,  hast du heute eine Geschichte für uns?" Der kleine Kohn antwortete mit  ganz leiser, piepsiger Stimme, doch leider in einer nur Kuddel bekannten Geheimsprache. Kuddel sagte dann aha, soso, hm, hm und dann übersetzte er  mir die Geschichte vom kleinen Kohn. Leider habe ich ihn nie selbst gesehen,  denn immer wenn ich in die Hülse hineinschaute, war er gerade nicht da. Ich  rief hinein, aber nie bekam ich eine Antwort. 
  Kuddel brachte mir alles bei, was ich im Leben so brauchen konnte. Er  zeigte mir, wie ich meine Schuhbänder zu Schleifen binden konnte, wie  ich es anstellen musste, um mit Messer und Gabel "feine Dame" zu spielen,  wie ich richtig schwimmende Holzschiffe aus einem kleinen Holzklotz  rausschnitzen, Briketts stapeln, Nägel im Dunkeln vom Fußboden mit einem  Magnet aufsammeln konnte. Auch wie man fegt, ohne daß es staubt, und er  brachte mir das Tanzen bei. 
  Da ich noch zu klein war, um mit ihm richtig zu tanzen, stellte ich mich  auf seine großen Füße, hielt mich an seinen Händen fest und schon ging  es los. Er fing an ein Lied zu singen: "Schingschang schingschang  bumfidelitzki, jangkangki, jangkangki, Schingschang schingschang bumfidelitzki, jangkangki katawau, katawauwauwauwau, tulimaris jangkangki, jangkangki,  tulimaris jangkangki katawauuuuu," und tanzte mit mir so lange durch die  Küche, bis mir schwindelig wurde und Tante Hinsch mit uns schimpfte, weil  sie nun kochen mußte und Kuddel endlich auf Tour gehen sollte, bis sie mit  dem Essen fertig wäre. Also packte Kuddel seine Werkzeugtasche und seinen  Zampel - und wir gingen beide auf Tour. 
  Mit Kuddel auf Tour gehen war toll. Er war nämlich Hausmeister in unserem  Block, ging jeden Tag in die Häuser von der Hellbrookstraße, dem Fritz- Neubers-Weg und dem Hardorffsweg, und ich durfte mit, denn ich war sein  Stift, ein anderes Wort für Lehrling. Diese Aufgabe nahm ich sehr ernst.  Zu Weihnachten hatte ich mir auch einen Zampel gewünscht und tatsächlich  hatte ich auch einen bekommen in schönem Blau. Zuerst war ich enttäuscht  über die Farbe, denn Kuddels Zampel war grau und im Stoff auch derber,  aber Kuddel überzeugte mich davon, dass Mädchen einen blauen mit weicherem  Stoff haben mußten. Also gingen wir täglich, jeder mit dem Zampel auf dem  Rücken, auf Tour. Zuerst ging es zu Frau Gallasch. Bei dem Namen lief mir  regelmäßig das Wasser im Munde zusammen, weil ich sie in Gedanken natürlich  Gulasch nannte. Bei mir zu Hause gab es selten Fleisch und ich verdächtigte Frau Gallasch, heimlich in einem versteckten Topf das Gulasch verstaut zu haben.  So schaute ich hier erst einmal heimlich in der Küche rum, ob nicht doch etwas Gulasch zu finden wäre. Leider fand ich nie etwas bei iher. Heute war ein  Wasserrohr kaputt. Ich reichte Kuddel den Engländer, die Schraubenzieher und  das für mich wertvolle Hanf. Ständig  versuchte ich davon zu stibizen, weil ich zu gerne blonde Haare gehabt hätte,  aber Kuddel paßte auf wie ein Schießhund. 
  Nachdem wir das Wasserrohr repariert hatten, gingen wir in den Fritz-Neubers- Weg zu Albers. Dort hatte der freche Sohn Alfred mal wieder eine  Fensterscheibe eingeschlagen. Vorsichtig entfernte Kuddel die Glassplitter  aus dem Fensterrahmen. Dann kam meine Arbeit. Ich durfte den alten, harten  Kitt entfernen, so dass Kuddel die neue Scheibe einsetzen konnte. Dann  durfte ich die kleinen Stifte, die als Stütze der Scheibe dienten, mit  einem ganz dünnen Hammer einklopfen und auch noch den neuen, frischen  Kitt mit Pril an den Fingern, damit er nicht festklebte, anpassen. Als  wir fertig waren, hielt mir Frau Albers einen Apfel hin. Sofort verschränkte  ich die Hände hinter meinem Rücken. Sie schaute mich fragend an und ich  erklärte ihr, dass ich noch einen Bruder hätte und der müsse ja wohl auch  einen Apfel bekommen. Das fand sie auch und so in Ordnung, und ich bekam  noch einen dazu, den ich später meinem Bruder Peter gab.
  Nun mußte Kuddel in seinen Arbeitskeller, der war in der Straße, in der  ich wohnte, im Hardorffsweg. Hier verwahrte er die interessantesten und begehrenswertesten Sachen auf. Meistens durfte ich nicht mit in den Keller,  denn ich hatte schon zu oft versucht, den für mich streng verbotenen roten  Kitt zu klauen. Der war giftig für Kinder. Doch ich wollte unbedingt die  Löcher in unserem roten Backsteinhaus ausbessern und versuchte es immer  wieder. Doch heute durfte ich mit runter und zusehen, wie Kuddel Gips mit  etwas Wasser, in einem halben Ball, zusammenrührte. Dann nahm er zwei  verschiedene Spachtel und wir gingen rauf ins Treppenhaus. Dort waren neben  den Treppenstufen, vom Bohnern mit dem schweren Bohnerklotz, kleine Löcher entstanden. Nun zeigte er mir, wie ich diese mit Gips ausbessern konnte.  Gips und weißer Kitt waren nicht für mich verboten, und von nun an besserte  ich jedes Loch, ob es ein zufälliges oder gewolltes war, erbarmungslos aus.  Noch heute kann man meine Arbeit an den Häusern bewundern... 
  Fortsetzung folgt irgendwann  © Helga Sievert-Rathjens
 
 
  
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