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 Geschichtenwettbewerb
helga ( Gast )
Beiträge:

11.03.2007 23:42
Kuddel Antworten

Kuddel

Wiese bis zum Horizont. Der Beifuß, von uns Kindern „Trümmerblumen“ genannt, ging mir bis zum Scheitel, die Kletten, schwankend hoch über mir im Wind, lauerten darauf, daß ich näher kam. Vor den Früchten der Kletten mußte ich mich in acht nehmen, denn wenn ich ihnen zu nahe kam, sprangen sie – zack und zwick – in meine langen Zöpfe und es gab lautes Schmerzgeschrei, wenn meine Mutter versuchte, sie wieder herauszupulen. So mußte sie sie dann mit einer Schere wieder herausschneiden - und das ergab wiederum lautes Wehgeschrei ihrerseits. Also versuchte ich ihnen auszuweichen.

Um mich herum sah ich undurchdringliches Gestrüpp. Doch da, links von mir, öffnete sich ein schmaler Trampelpfad. Er führte mich auf ein Stück Kleewiese. Von allen Seiten hörte ich das fröhliche Summen der Bienen und Hummeln, die sich an dem Nektar der Blüten zu verschlucken schienen.

Vorsichtig, um keine Hummel zu zerdrücken, setzte ich mich ins Gras und beobachtete die Heuschrecken - versuchte sie zu fangen, doch sie waren schneller als ich, hüpften in lustigem Bogen kreuz und quer durch die Luft, wenn ich versuchte, sie zu erhaschen, setzten sich unweit auf einen Grashalm und ließen ihr „ätsch-ätsch-ätsch“ erklingen. Ich ärgerte mich über ihren Spott und versuchte es wieder, mit dem gleichen Erfolg.

Bei den Blüten der Disteln hielten sich immer die Schmetterlinge auf. Ich liebte sie, stand ganz still und hoffte, daß sich einmal einer in mein Haar setzen würde. Doch niemals kam mir einer nahe. So begann ich Blumen zu pflücken, um sie anzulocken. Weißbraunen Klee, blauen Ehrenpreis, gelbe Reseden, Schöllkraut und Hahnenfuß. Jetzt fehlten noch rote Blumen. Ich streifte durch die Wiese.

Den zerbombten Bunker umkurvte ich dabei weiträumig. Hier waren nur massenhaft Brennesseln und es stank ein wenig nach fauligem Wasser. Dahinter verlief die Lienhardstraße. Sie zweigte gegenüber von Tante Hinschs Haus von der Hellbrookstraße ab und lief mitten durch die Wiese, teilte sie sozusagen in zwei Hälften und endete dann am Rübenkamp.

An der Lienhardstraße stand kein Haus, kein Baum, kein Garnichts. Nur der Bunker lag ein paar Schritte neben ihr zertrümmert in der Wiese. Die Straße selbst glich eher einer (wenn auch sehr kleinen) Hügellandschaft. Tiefe Löcher mitten im Teer, die nach dem Regen bis zum Rand mit Wasser gefüllt waren und viele große und kleine Pfützen bildeten. In jede mußte ich reinpatschen und meine Mutter damit zur Weißglut bringen.

Doch jetzt waren hier keine Pfützen und ich eilte auf die andere Seite, um nach roten Blumen zu suchen. Endlich fand ich eine Lichtnelke, aber so richtig rot war die nicht, es mußte eine rotere her. Ab gings durch die hohen Gräser. Da, ganz versteckt leuchtete es rot auf, ein Mohnblümchen blühte stillvergnügt vor sich hin. Ich pflückte es und setzte mich selig ins weiche Gras.

Ganz ruhig war es hier, kein Geräusch, nur das der Grashüpfer, Bienen und der dicken Hummeln. Ein Käfer krabbelte ungeschickt über die kurzen Grashalme, dann verschwand er im Bodengewusel. Ich blickte nach oben und blinzelte in die von der Sonne beschienenen zarten Rispen der Gräser. Ein leichter Wind bewegte die Halme und wie ein Schleier bewegten sich die hauchfeinen Härchen und leuchteten golden im Licht. Wie die Haare der Prinzessin vom Froschkönig dachte ich und schlief auch schon ein.

Kinderstimmen weckten mich. Verschlafen wunderte ich mich, daß ich mein Kissen nicht finden konnte, dann merkte ich, wo ich war und blickte suchend nach den Kindern. Sie saßen unweit von mir in einer Kleewiese und flochten sich Ketten und Armbänder aus den Blüten.

Eines der größeren Mädchen zeigte mir sehr geduldig, wie das ging, und ich flocht meine erste Krone fürs Haar. Nun würden doch noch alle erkennen, daß ich in Wirklichkeit eine richtige Prinzessin war, freute ich mich, und machte mich mit Eifer daran, ein Armband zu flechten. Meine ungeschickten Finger schafften es auch bald, und ich war glücklich als die Kinder mein Werk bewunderten.

Nun wollte ich schnell zu Tante Hinsch und Kuddel laufen. Sie waren unsere ehemaligen Nachbarn und für mich mehr wie Vater und Mutter. Vielleicht war Kuddel schon von der Arbeit nach Hause gekommen. Ich wollte Tante Hinsch die Blumen schenken und Kuddel könnte mir eine Geschichte erzählen.

Eigentlich hieß er ja Rudolf, aber Peter, mein Bruder, und ich hatten ihn Kuddel getauft, weil dieses Wort ein Ausdruck aus dem Hamburger Hafen für Kumpel und Freund ist. Da er mein und Peters bester Freund war, hatte er den Namen von uns bekommen.

Er war der beste Geschichtenerzähler auf der Welt. Ich durfte auf seinem Schoß sitzen und er erzählte mir die dollsten Sachen. Am liebsten hörte ich die Geschichte vom kleinen Kohn, der in der winzigen Plastikhülle des Rollobandes wohnte, genau dort, wo man ziehen mußte um das Rollo runter- oder raufzuziehen. Er faßte dann die kleine Hülse an und fragte mich: "hast du heute schon den kleinen Kohn gesehen?" "Nein," sagte ich und schaute neugierig zu wie er die Hülse etwas nach oben bog um selbst hineinschauen zu können. "Ach, da ist er ja, der kleine Kohn. Hallo Kohon, hast du heute eine Geschichte für uns?" Der kleine Kohn antwortete mit ganz leiser, piepsiger Stimme, doch leider in einer nur Kuddel bekannten Geheimsprache. Kuddel sagte dann aha, soso, hm, hm und dann übersetzte er mir die Geschichte vom kleinen Kohn. Leider habe ich ihn nie selbst gesehen, denn immer wenn ich in die Hülse hineinschaute, war er gerade nicht da. Ich rief hinein, aber nie bekam ich eine Antwort.

Kuddel brachte mir alles bei, was ich im Leben so brauchen konnte. Er zeigte mir, wie ich meine Schuhbänder zu Schleifen binden konnte, wie ich es anstellen musste, um mit Messer und Gabel "feine Dame" zu spielen, wie ich richtig schwimmende Holzschiffe aus einem kleinen Holzklotz rausschnitzen, Briketts stapeln, Nägel im Dunkeln vom Fußboden mit einem Magnet aufsammeln konnte. Auch wie man fegt, ohne daß es staubt, und er brachte mir das Tanzen bei.

Da ich noch zu klein war, um mit ihm richtig zu tanzen, stellte ich mich auf seine großen Füße, hielt mich an seinen Händen fest und schon ging es los. Er fing an ein Lied zu singen: "Schingschang schingschang bumfidelitzki, jangkangki, jangkangki, Schingschang schingschang bumfidelitzki, jangkangki katawau, katawauwauwauwau, tulimaris jangkangki, jangkangki, tulimaris jangkangki katawauuuuu," und tanzte mit mir so lange durch die Küche, bis mir schwindelig wurde und Tante Hinsch mit uns schimpfte, weil sie nun kochen mußte und Kuddel endlich auf Tour gehen sollte, bis sie mit dem Essen fertig wäre. Also packte Kuddel seine Werkzeugtasche und seinen Zampel - und wir gingen beide auf Tour.

Mit Kuddel auf Tour gehen war toll. Er war nämlich Hausmeister in unserem Block, ging jeden Tag in die Häuser von der Hellbrookstraße, dem Fritz-Neubers-Weg und dem Hardorffsweg, und ich durfte mit, denn ich war sein Stift, ein anderes Wort für Lehrling. Diese Aufgabe nahm ich sehr ernst. Zu Weihnachten hatte ich mir auch einen Zampel gewünscht und tatsächlich hatte ich auch einen bekommen in schönem Blau. Zuerst war ich enttäuscht über die Farbe, denn Kuddels Zampel war grau und im Stoff auch derber, aber Kuddel überzeugte mich davon, dass Mädchen einen blauen mit weicherem Stoff haben mußten. Also gingen wir täglich, jeder mit dem Zampel auf dem Rücken, auf Tour. Zuerst ging es zu Frau Gallasch. Bei dem Namen lief mir regelmäßig das Wasser im Munde zusammen, weil ich sie in Gedanken natürlich Gulasch nannte. Dort war ein Wasserrohr kaputt. Ich reichte Kuddel den Engländer, die Schraubenzieher und das für mich wertvolle Hanf. Ständig versuchte ich davon zu stibizen, weil ich zu gerne blonde Haare gehabt hätte, aber Kuddel paßte auf wie ein Schießhund.

Nachdem wir das Wasserrohr repariert hatten, gingen wir in den Fritz-Neubers-Weg zu Albers. Dort hatte der freche Sohn Alfred mal wieder eine Fensterscheibe eingeschlagen. Vorsichtig entfernte Kuddel die Glassplitter aus dem Fensterrahmen. Dann kam meine Arbeit. Ich durfte den alten, harten Kitt entfernen, so dass Kuddel die neue Scheibe einsetzen konnte. Dann durfte ich die kleinen Stifte, die als Stütze der Scheibe dienten, mit einem ganz dünnen Hammer einklopfen und auch noch den neuen, frischen Kitt mit Pril an den Fingern, damit er nicht festklebte, anpassen. Als wir fertig waren, hielt mir Frau Albers einen Apfel hin. Sofort verschränkte ich die Hände hinter meinem Rücken. Sie schaute mich fragend an und ich erklärte ihr, dass ich noch einen Bruder hätte und der müsse ja wohl auch einen Apfel bekommen. Das fand sie auch und so in Ordnung, und ich bekam noch einen dazu, den ich später meinem Bruder Peter gab.

Nun mußte Kuddel in seinen Arbeitskeller, der war in der Straße, in der ich wohnte, im Hardorffsweg. Hier verwahrte er die interessantesten und begehrenswertesten Sachen auf. Meistens durfte ich nicht mit in den Keller, denn ich hatte schon zu oft versucht, den für mich streng verbotenen roten Kitt zu klauen. Der war giftig für Kinder. Doch ich wollte unbedingt die Löcher in unserem roten Backsteinhaus ausbessern und versuchte es immer wieder. Doch heute durfte ich mit runter und zusehen, wie Kuddel Gips mit etwas Wasser, in einem halben Ball, zusammenrührte. Dann nahm er zwei verschiedene Spachtel und wir gingen rauf ins Treppenhaus. Dort waren neben den Treppenstufen, vom Bohnern mit dem schweren Bohnerklotz, kleine Löcher entstanden. Nun zeigte er mir, wie ich diese mit Gips ausbessern konnte. Gips und weißer Kitt waren nicht für mich verboten, und von nun an besserte ich jedes Loch, ob es ein zufälliges oder gewolltes war, erbarmungslos aus. Noch heute kann man meine Arbeit an den Häusern bewundern...

Fortsetzung folgt irgendwann
© Helga Sievert-Rathjens


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