23.06.2006 01:35 Flucht in die Stille von Biggi
Wieder einmal war die Situation eskaliert. Wie schon so oft in den vergangenen Tagen, Wochen, Monaten. Es war in der Küche und er hat sich vor Kristin aufgebaut. Seine Augen weit aufgerissen. Starr! Der Jähzorn war ihm ins Gesicht geschrieben und ja… oh ja, er machte ihr Angst. Herrschsüchtig stand er wieder vor ihr, mit seinem zornesroten Gesicht, aus dem die Augen hervor zu quellen schienen. Er starrte sie an und seine Stimme wurde immer lauter und klang bedrohlicher, mit jedem Schritt den er auf Kristin zukam. Panik ergriff die junge Frau! Pure, nackte Angst hatte sie vor diesem Monster, das sie einmal geliebt hatte! Ihr Herz pochte wie wild und schien ihr fast Brust und Hals zu sprengen! Die Kehle war wie zugeschnürt! Sie hätte noch nicht einmal schreien können. Noch einen Schritt wich sie zurück und spürte in ihrem Rücken schon die Küchenzeile. Und nun? Weiter zurück konnte sie nicht mehr. Wie ein gehetztes Tier, war sie in die Ecke gedrängt worden. Vor ihr, der Jäger mit seinen tödlichen Giftpfeilen. Anscheinend bereit, jeden Moment von seiner Waffe gebrauch zu machen.
Wo Kristin die Kraft und den Mut hergenommen hatte, wissen die Götter. Irgendwie konnte sie sich an ihm vorbei drängen und raus aus der Küche. Im Flur riss sie die Autoschlüssel vom Brett und rannte aus dem Haus. Raus! Nur schnell raus! Sie musste weg! Einfach weg aus seiner Nähe die ihr so furchtbare Angst und Ekel bereitete. Aufgebracht, zitternd und mit tränennassem Gesicht saß sie im Auto, steckte schnell den Schlüssel ins Zündschloss und raste davon. Weg! Nichts wie weg… wie schon so häufig in letzter Zeit. Wenige Minuten später, war sie am Waldrand angekommen, machte den Motor aus und ihr Kopf sank erschöpft und erleichtert auf das Lenkrad. Sie war ihm entkommen. Heftig wurde der Körper von Weinkrämpfen geschüttelt. Sie konnte und konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Nach einer Weile hatte sie sich ein klein wenig beruhigt, nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel, die zwischen den Vordersitzen lag und stieg mit zitternden Beinen, die sie kaum tragen konnten aus dem Wagen. Kristin ging ein paar unsichere Schritte, rauchte hektisch und saugte tief das Nikotin und stille Waldluft ein, was sie jetzt beides so nötig brauchte. Gedankenfetzen, Bilder und Worte… alles wirbelte wild und haltlos in ihrem Kopf herum. Warum tut dieser Mann mir so weh? Haben wir uns nicht einmal geliebt? Warum lässt er mich nicht einfach gehen? Wer oder was gibt ihm das Recht, mich an ihn fesseln zu wollen? Er muss doch auch sehen, dass das so keinen Sinn mehr hat! Ist er denn wirklich so blind, dass er nicht bemerkt, dass das schon lange keine Ehe mehr ist, die wir führen? Warum jagt er mich nicht zum Teufel, wenn er mich doch so hasst? Warum will er denn mit aller Gewalt erzwingen dass ich bei ihm bleibe? Nur damit er seine Geilheit an mir stutzen kann? Warum? …Warum? …Waaaaarum???? Alles in ihr schrie! Wo sollte dieser Wahnsinn noch hinführen? Weinend sank Kristin auf den kalten, feuchten Waldboden, der an einigen Stellen noch leicht mit Schnee gepudert war, doch sie spürte ihn nicht. Ihre Schreie der Verzweiflung, der Ohnmacht und Resignation, hallten zwischen den Bäumen und wurden von diesen stummen Zeugen verschluckt.
Die Kirchenuhr schlug 3 mal und holte das Bündel Mensch, das inzwischen schon eine ganze Weile still und reglos am Boden lag, langsam wieder aus seiner Apathie zurück. Kristins Armbanduhr zeigte ihr 13:45 an. Es wird Zeit… ich muss jetzt wieder zurück… Kim hat heute Geburtstag… sicher wird sie jetzt schon von der Schule zu Hause sein… sie ist jetzt 14 ...mein Mädchen… sie wird sich schon fragen wo ich bin… warum ich nicht zu Hause bin… ausgerechnet heute… wo ich doch sonst immer da bin, wenn… und Robin?… womöglich hat er jetzt schon ausgeschlafen… ich muss schnell nach Hause… ich muss zu meinen Kindern… und die Gäste… werden auch bald da sein… und ich muss den Kuchen noch fertig machen… und den Tisch decken… und die Gäste… ich muss mich noch waschen und umziehen… meine Hände sind ganz schmutzig und die Hose auch… ja und die Gäste… die von all dem nichts ahnen… nicht von den letzten Monaten und nicht von heute… von gar nichts… und das ist gut so… ich schäme mich so sehr…
Mit von der Kälte schmerzenden Gliedern ging Kristin zurück zu ihrem Wagen, stieg ein und startete den Motor um wieder nach Hause zu fahren. Nach Hause zu ihren Kindern - zurück in die Höhle des Löwen.
© Birgit Lüers
Camaela Treue Seele
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23.06.2006 12:19 RE: Flucht in die Stille
...ein altes Thema, dass doch leider immer wieder aktuell ist
Ich werde es wohl nie verstehen, dass es Frauen gibt, die diese Hölle bereitwillig ertragen. Obwohl es heute soviel Anlaufstellen gibt um sich helfen zu lassen, fehlt es den meisten dieser Frauen an Mut ihre "vermeintlichen" Sicherheiten aufzugeben...
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* ich will so bleiben wie ich bin ;) *
Biggi
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23.06.2006 17:40 RE: Flucht in die Stille
Dieses Thema wird es wohl geben, solang es Menschen gibt.
Sicherlich gibt es viele Frauen, die es nie schaffen, den Schritt aus dem Dilemma zu wagen. Bei manchen dauert es vielleicht aber nur eine Weile, bis der berühmte Tropfen kommt, der das Fass zum Überlaufen bringt. Andere wiederum sind so gefestigt, dass in solche Situationen, in ein solches Leben nie geraten würden....
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Weiniger bedeutet oftmals mehr
bernd
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23.06.2006 20:11 RE: Flucht in die Stille
Du schreibst sehr gut,Biggi,das weis ich. Deine Geschichte ist sehr realitätsbezogen und immer wieder nachdenklich. Warum sind Männer so? Warum sind Frauen so? Früher tat man das mit dem "schwachen Geschlecht" ab. Ich finde das ist nicht mehr der Fall. Wachsendes Selbstbewußtsein-Stolz-Eigenständigkeit sind heute schon ein gewisser Selbstschutz. Die Unabhängigkeit vom Partner und der Ruf "...ich kann notfalls auch allein" sind Steuerungsfaktoren die helfen. Trotzdem findet deine Geschichte immer wieder und überall statt. Es ist traurig!!!! Deine Geschichte ist sehr gut geschrieben. Die andere lese ich Sonntag
Biggi
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23.06.2006 22:37 RE: Flucht in die Stille
Die Frage nach dem Warum, Bernd... du weisst das ja sicher selbst - die wird man wohl nie beantworten können.
Die Schlagworte, die du gerade genannt hast... ja, damit hast du vollkommen recht. Doch glaube ich, dass manches so schleichend seinen Weg nimmt, dass erst spät bemerkt wird, dass da was schief läuft. Dann heisst es Kraft und Mut zu finden, sich aus der Situation herauszuschälen - aufzuwachen! Was in dieser Situation und mit mangelndem Selbstbewusstein, das daraus resultiert, vielleicht gar nicht so einfach ist.
Danke für dein Lob, Bernd.
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Biggi
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19.07.2006 14:41 RE: Flucht in die Stille auch hier mal der Versuch einen Hörtext als mp3-Datei anzuhängen. Es gibt wohl eine zulässige Maximalgröße also...Test...
edit: scheint zu klappen :o)
Dateianlage: Flucht in die Stille.mp3 Stefanie
Beiträge: 2.275
19.07.2006 20:38 RE: Flucht in die Stille
Wahnsinnig gut und spannend Deine Geschichte. Ein trauriges Thema. In der Haut so einer Frau möchte ich nicht stecken. Ich wüsste nicht, wie ich dann reagieren würde. Aber oftmals ist es genau so, wie Du es beschrieben hast. Sie leiden still Man sollte stets ein wenig unwahrscheinlich sein! Oscar Wilde
Su
19.07.2006 20:43 RE: Flucht in die Stille
Deine Geschichte hat mich sehr nachdenklich gestimmt .....konnte nachvollziehen...leider!!!! Zwar in einer anderen Form,aber die war genauso schlimm! Gleichzeitig hat sie mir gezeigt das ich den richtigen Weg gewählt habe,trotz Kind.
Super geschrieben....!
Erst wenn du aufgegeben hast, bist du besiegt!
Biggi
Beiträge: 4.448
19.07.2006 22:13 RE: Flucht in die Stille
Sie leiden still, ja Steffi. Bis es vielleicht dann irgendwann wirklich nimmer geht.
Su, Kinder merken sehr wohl, wenn eine Beziehung kaputt ist. Ich glaube mit getrennt lebenden, aber glücklicheren Eltern haben Kinder weniger ein Problem, als mit beiden Eltern unter einem Dach, die sich aber ständig nur streiten oder noch schlimmer.
Danke für´s Lesen (oder Hören?) der Geschichte, Steffi und Su.
Helga Treue Seele
Beiträge: 2.808
20.07.2006 11:04 RE: Flucht in die Stille
Diese Geschichte hatte ich vor einigen Wochen, als du sie hier einstelltest, gelesen. Konnte aber nichts dazu sagen, weil ich einmal wieder viel zu nah dran war. Jetzt, nach dem "sacken" möchte ich mich aber doch dazu äußern.
Die Situation für die Frau ist sehr bedrückend, aber für die Kinder ist es der reinste Horror. Kinder merken immer, wenn etwas zwischen den "Erwachsenen" nicht stimmt. Ich denke auch, dass es besser ist, ihnen Ehrlichkeit und Konsequenz zu zeigen, als so ein Leben zu vermitteln. Doch die Angst vom Regen in die Traufe zu kommen, hält so manchen Entschluß zur Trennung zurück. Die Angst vor dem Alleinsein kann sehr mächtig werden und erst wenn es vollbracht ist und ausprobiert wurde, merken wir wie erleichternd und richtig dieser Schritt doch war. Du kannst tun was du möchtest, aber tu es so, dass es anderen nicht schadet
Helga Treue Seele
Beiträge: 2.808
20.07.2006 19:45 RE: Flucht in die Stille
Hi Biggi, nun habe ich versucht Flucht in die Stille zu hören. Dort tritt das gleiche Problem auf. Ich vermute mal, dass es an meinen Boxen liegt. Die sind nicht so dolle, aber für normales Hören sind sie absolut ausreichend Du kannst tun was du möchtest, aber tu es so, dass es anderen nicht schadet
Biggi
Beiträge: 4.448
20.07.2006 22:04 RE: Flucht in die Stille
Ich weiss nicht, woran es liegen kann, Helga. Aber wenn´s einigermaßen verständlich war geht´s ja Danke für´s Probehören
Und ja..wie ich Su schon schrieb... Kinder merken das sehr wohl und leiden darunter. Dann lieber "ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende"
sieghild Treue Seele
Beiträge: 2.212
20.07.2006 22:25 RE: Flucht in die Stille
liebe biggi,ich hielt den atem an,es machte mich sprachlos. du hast ein frauenschicksal so spannend geschrieben, dass man annehmen mußte,du hast eine wahre begebenheit geschrieben. sicher gibt es diese lebensgeschichten und immer ist es der absprung, der nicht geschafft wird.da sind hürden - die kinder,da ist das finanzielle. deine geschichte ist sehr gut geschrieben.
Liebe das Leben,dann liebt es auch dich.
Biggi
Beiträge: 4.448
20.07.2006 22:30 RE: Flucht in die Stille ...es ist eine wahre Begebenheit, Sieghild..... meine
ich danke dir
sieghild Treue Seele
Beiträge: 2.212
20.07.2006 22:55 RE: Flucht in die Stille
liebe biggi,ich muß jetzt erst schlucken und bin sehr betroffen,dass ich nach luft schnappen muss, da ich nicht ahnte,dass es so nah sein kann. mir tut es leid,dass es dich betrifft und ich möchte keine abgedroschen phrasen weiter dreschen. dennoch, alle guten wünsche für dich.
Liebe das Leben,dann liebt es auch dich.
Biggi
Beiträge: 4.448
20.07.2006 23:09 RE: Flucht in die Stille
ich wollte dich nicht erschrecken, Sieghild Ich hab einiges hinter mir, aber die Welt liegt vor mir ich mag mich nicht mehr umdrehn
sieghild Treue Seele
Beiträge: 2.212
20.07.2006 23:14 RE: Flucht in die Stille liebe biggi,nicht erschrocken,eher hilflose sprachlosigkeit.. nun sehe ich an deinen worten,dass die situation nicht mehr aktuell ist... du kannst frei atmen..
Liebe das Leben,dann liebt es auch dich.
Biggi
21.07.2006 02:57 RE: Flucht in die Stille
Diese Situation ist gut 5 Jahre her und das war auch die letzte vor der Trennung. Danach folgten noch harte Zeiten, aber die sind nun auch "vergessen"
Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt Novalis
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