Die "Straße der Erfahrungen" sah bedrohlich aus. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich dieser Herausforderung stellen wollte. "sie kann schmerzhaft sein..." tönte noch die Stimme des Fahrers in meinem Ohr. Es half nichts. Irgendwann mußte ich ja mal das Ende von Seelenstadt erreichen. Und so trabte ich wieder los - zögerlich. Auf einen Schlag stürzte alles auf mich ein. Viel Böses wohnte in dieser Straße. Hier residierte die Kälte, der Vertrauensbruch, der Neid, die Gefühllosigkeit und noch viele dunkle Dinge mehr. Es tat so weh. Ich fiel auf meine Knie und weinte. "Na los, Du kannst es!" rief eine Stimme durch den Nebel. "Du bist viel stärker, als Du denkst! Lauf!". Die Stimme - so warm - und ich rannte. Ich rannte und alle schlechten Erfahrungen hämmerten auf mich ein. Sie zogen und zerrten, bissen Wunden in mein Innerstes. Sie wollten mich zu Fall bringen. Doch ich ignorierte den Schmerz und rannte weiter...
Plötzlich schwebte ich mitten im Nichts. Seelenstadt schien verschwommen. Es war, als hinge ich schwerelos in der Mitte einer Kugel. Eine Hälfte war dunkel, die andere hell. Ich war verwirrt und klar, voller Angst und voller Freude. "Wo bin ich?", flüsterte ich. "Du bist in Deiner Mitte angelangt!". Da war sie wieder, die Stimme. "Was mache ich hier?" rief ich ins Rund. "Hier ist das Zentrum von Seelenstadt. Alles vereinigt sich hier. Alles, was Du geschaffen hast. Alles was war, alles was ist und alles, was sein wird. Du bist Seelenstadt. Du bist ihr Architekt." "Wenn ich der Architekt bin, wieso finde ich dann das Ende nicht?", weinte ich. "Weil es kein Ende gibt.", antwortete die Stimme, "Solange Du existierst, wird Seelenstadt bestehen. Du formst sie, mit allem was Du tust und denkst. Manche Straßen zerfallen, manche werden neu gebaut. Und für alles bist Du ganz alleine verantwortlich."
Ich war benebelt. "Wer bist Du?", schrie ich voller Angst. "Wer ich bin?", fragte die Stimme, "Ich bin der Hüter Deiner Gedanken, der Wirt Deiner Seele...ich bin Dein Herz!" "Dann bist Du das also, der mir so weh tut!", klagte ich. "Nein, ich bin der, dem wehgetan wird. Und weil auch ich nur ein gewisses Maß an Schmerz ertragen kann, hab ich Dich hierher geführt, um nicht zerbrechen zu müssen. Hierher - in Deine Mitte. Hier kannst Du eine Weile in Dir selbst ruhen und dann entscheiden, wo Du hin willst, um danach Seelenstadt neu zu betreten." Dann war es still.
Ich grübelte. Gedankenfetzen flogen vorüber, tauchten auf und verschwanden, wie der Nebel aus dem sie sich formten. Meine Panik entwich und ich wurde ruhiger. Dann fiel ich in einen tiefen Schlaf. Als ich erwachte befand ich mich in einem wunderschönen Garten. Überall blühte es. Mächtige, starke Eichen säumten die Beete. Aus einer tiefen Quelle strömte warmes, helles Licht. An einem kleinen Teich stand eine Bank auf der jemand saß und auf einem Grashalm kaute. Ich ging hinüber und erkannte meinen Taxifahrer.
"Hallo", rief er freudig, "Ich hab schon auf Dich gewartet. Es freut mich, daß Du hergefunden hast, die Warterei hat mich schon ganz schläfrig gemacht." Er lächelte mich an. "Wo bin ich denn nun schon wieder gelandet?", fragte ich erstaunt."Und woher wusstest Du, daß ich herkommen würde?" Wieder lächelte er. "Du bist hier in Deinem Wesen, Deinem Selbst. Ich wusste, wenn ich Dich finden wollte, mußte ich genau danach suchen. Ich muß sagen, es gefällt mir hier außerordentlich gut." Beschämt blickte ich zu Boden. "War schmerzhaft, die "Straße der Erfahrungen", nicht wahr?" Ich nickte und eine Träne bahnte sich den Weg über mein Gesicht. "Hey,", flüsterte er sanft, "nicht weinen! Du hast es doch geschafft. Lass das alles hinter Dir und fange neu an. Wie wär´s? Soll ich Dich ein Stück begleiten?" Dankbar nahm ich das Angebot an. Er hakte sich bei mir unter. "Na, welchen Weg wollen wir nehmen?" Er machte ein so lustiges Gesicht, daß ich lachen mußte. "Gute Antwort!", tobte er übermütig, "Die "Straße des Lachens", eine gute Wahl!" Und so zog er mich mit sich und wir beschritten gemeinsam die Wege von Seelenstadt, die seltsamerweise ganz hell und freundlich geworden ist.
Wir durchquerten die "Straße des Lachens", kreuzten die "Straße des Glücks", den "Platz der Güte" und passierten die "Allee der Gefühle". Wir hatten so viel Spaß, und ich merkte, wie mein Herz begann zu heilen. Dann erreichten wir eine Gabelung. Erschrocken blieb ich stehen. Nach rechts führte die "Straße des Vertrauens". Aber links wartete eine alte Bekannte auf mich: Die "Straße der Einsamkeit" "Jetzt mußt Du eine Entscheidung treffen.", sagte mein Begleiter. "Diese Wahl obliegt nur Dir ganz alleine!" Er verschwand vor meinen Augen.
Da stand ich nun. An einer Weggabelung mitten im Nirgendwo. Was sollte ich nur tun? Die "Straße des Vertrauens" war nicht einzusehen, ein großes Tor versperrte mir den Blick. Wollte ich da durchgehen? Was lag blos auf der anderen Seite? Vielleicht doch lieber zurück zur "Einsamkeit"? Die kannte ich ja wenigstens. Überraschungen würden da keine auf mich warten. Aber wollte ich wirklich wieder zurück in dieses trostlose Dunkel? Ich raffte all meinen Mut zusammen und durchschritt das Tor zur "Straße des Vertrauens" Sie war hell und freundlich und ich bemerkte, wie unbegründet meine Angst doch war. Voller Freude lief ich hindurch, voller Neugier, was am Ende auf mich wartete. Auf meinem Weg begegnete ich Frau Hoffnung, die mir einen Strauß Zuversicht schenkte. Auch traf ich Herrn Glaube, der mir ein Körbchen Selbstvertrauen mit auf den Weg gab. Soviele nette Dinge erlebte ich hier... Dann war sie zu Ende und da stand er wieder: Mein Taxifahrer!
"Und wieder eine gute Wahl.", schmunzelte er. "Von nun an darf ich Dich begleiten, wo auch immer Du hingehst!" Ich blickte ihn an und flüsterte:" Dafür bin ich auch unheimlich dankbar! Aber willst Du mir denn nicht sagen wer Du bist und wie Du heisst?" "Wer ich bin und wie ich heiße?", erwiderte er mit ruhiger Stimme. "Ich bin all das, was Du Dir so sehnlich gewünscht hast." "Und Dein Name?", hakte ich nach. "Nun, nenn mich doch einfach Liebe."
Liebe Stefanie, ich bin total überwältigt, auch von deiner zweiten Geschichte der Seelenstadt. Beide Geschichten sind wundervolle Werke. Du hast die Straßen der Seele alle durchwandert, keine vergessen und ganz stark hervorgehoben, man muß kämpfen, darf nicht aufgeben, tapfer den Lebensweg beschreiten, die Liebe "versetzt Berge" und ist ein Geschenk. Es gibt verschiedene Arten der Liebe, es muß nicht immer ein Mensch sein, die Hauptsache man erkennt sie.... Voller Begeisterung sende ich dir ganz viele für diese philosophischen Gedanken, herzlichst Karin Lissi
@Camaela: Herzlichen Dank, liebe Camaela für den ermunternden Kommentar, ist es doch meine erste Kurzgeschichte, welche ich veröffentliche. Es freut mich, daß ich ein Stück "Seelenstadt" mit Dir teilen durfte. Darfst gerne wiederkommen
@Karin Lissi: Ich antworte Dir mal hier bei Teil 2, liebe Karin Lissi Zunächst einmal möchte ich mich auch bei Dir ganz herzlich für die lieben Worte bedanken. Ja, manchmal ist es ein "Kampf", wie Du so schön gesagt hast, und oft fragt man sich, warum das alles? Und eigentlich gibt es nur eine Antwort darauf: Die Liebe. Sie macht sovieles wieder heil und gut, egal, was vorher war. Darum sollte man daran festhalten, an sie glauben. Der Kampf lohnt sich. Einen hoffnungsvollen Gruß sende ich Dir in Deinen Tag. lichst, Steffi
Liebe Steffi, noch bin ich ganz benommen von dieser wunderbaren Geschichte, aber meine Gefühle sind sehr aufgewühlt. Diese Stadt kenne ich, du beschreibst den Weg einfach wunderbar. Die Erkenntnis, dass Liebe ALLES ist und mit ihr alles gelingt, zeigt mir, dass du diese Straßen nicht einfac nur abgelaufen bist, sondern sie auch verstanden hast, gelernt und sie verinnerlicht hast. Jetzt kann das Pendel wieder ausschlagen und mal links, mal rechts vom Mittelpunkt sein, aber immer wird es sich in einem bestimmten Kreis befinden und nicht mehr un- kontrolliert über diesen hinaus pendeln (das sind meine Vorstellungen von ausge- glichen sein, durch verstehen des Ganzen). Meine Straße des Vertrauens hat leider immer noch li. und re. Türen zur Straße der Einsamkeit. Allerdings werden die Schlösser immer komplizierter und die Türen immer verschwommener und schwerer zu erkennen. Das gibt mir große Hoffnung, dass sie eines Tages ganz verschwunden sein werden. Ich habe diese Geschichte voll in mir aufgenommen. Wenn ich auch so einiges nicht so sehe wie du, ist sie doch großartig und hilfreich, vielleicht auch mal in einer schwarzen Stunde für mich, wenn ich sie dann wieder lese.
Herzlichen Dank liebe Helga für den so lieben und ausführlichen Kommentar. Natürlich sind Deine Wege etwas anders. So sind sie wohl bei jedem. Du bist der Architekt Deiner Stadt, ganz klar. Was mir wichtig war, war zu erkennen, daß alle diese Dinge, ob gut oder schlecht, einen zu dem Menschen machen, der man eigentlich ist. Und manchmal kommt man alleine einfach nicht weiter, und da ist es gut, wenn man jemanden hat, der einem hilft. Dies kann die Liebe sein, oder auch ein besonders guter Freund. Auch wenn ich manches hier erfunden und auch übertrieben habe, so gibt es diese Stadt trotzdem in meinem inneren. Manche Straße würde man am liebsten abreissen, aber dann wär da ein riesen Loch. Ich weis Du verstehst, was ich damit sagen will. Man kennt diese Straßen und kann versuchen, sie zu meiden. Dann tun sie nicht mehr so weh Aber ungeschehen machen kann man sie nicht. Und dank Dir und vielen anderen hier, konnte ich meinen Straßen wieder an mancher Ecke ein Lämpchen zufügen, die meinen Weg heller machen. Ist das nicht toll? Ich drück Dich mal ganz lieb!