Hundert Jahre sind vergangen seit ich als Trieblein angefangen. Man sagt, ich könne tausend werden, auf diesem, meinen Platz auf Erden. Viel geschah schon um mich her, der große Wald besteht nicht mehr. Mehrmals hab ich schon gedacht: 'Mir wird jetzt der Garaus gemacht'! Zum Glück war da ein weiser Mann, der schrie die andern heftig an. Jetzt führt die lange Schienenstrecke bei den Buchen um die Ecke. Die Autostraße, gleich daneben- Ruhe wird's hier nicht mehr geben. Dazu der schreckliche Gestank, oftmals wird mir mächtig bang. Auf meinen Blättern Russ und Staub, bis zum Frühjahr bleibt das Laub. Was ich nicht als schön empfinde, ist Eingeritztes in meiner Rinde. Doch auch in der alten Zeit sah ich sehr viel Herzeleid. Grausame Feinde vor des Ortes Toren, und die unbarmherzigen Inquisitoren. Die alten Ritter auf ihren Rossen, die noch mit der Armbrust schossen, dass die Pfeile zischend schwirrten und die Rüstungen dabei klirrten. Ich war Zeuge der tödlichen Pest, die so vielen gab den Rest. Armut sah ich, große Not, Kinderaugen betteln für Brot. Ich sah Flut und Feuersbrunst, die Epochen und die Kunst. Kaiser und König sah ich regieren, und feine Damen promenieren. Je moderner, die Zeiten wurden, umso mehr verfielen die Burgen. Heute nur noch Attraktion, für den steten Touristenstrom. Ich war Zeuge furchtbarer Taten von Schergen und Soldaten aus der jüngst vergangnen Zeit, vergeblichem Beten und großem Leid. Der Fortschritt sollt' die Gewalt besiegen, doch immer wieder kommt es zu Kriegen. Neue Vernichtung - neues Verderben, und niemand denkt an unsere Erben. Häuser schieben sich näher heran, vielleicht komme ich doch noch dran. Reh' und Hirsch sehe ich kaum, man nahm ihnen den Lebensraum. Ich seh über mir den Luftverkehr, Joggers rennen hin und her. Raketen fliegen pfeifend ins All, verstummt ist Vogelsang -und Schall. Auch weiße Tauben seh ich nicht, sie sind verschwunden aus meiner Sicht. Ach, wie gerne ich sie doch sähe, ganz sind sie aus der Menschen Nähe.
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