Die Sonne findet dich
(Im Anhang auch als Hörtext)

Gestern hatte mein kleines Schiff den Hafen verlassen.
Ich war der Kapitän – zum ersten Mal in meinem Leben lenkte ich selbst ein Schiff.
Ein Schiff? Naja, es war eher eine Nussschale.
Mutig hatte ich diese Aufgabe angenommen. Ich hatte ja keine andere Wahl, denn
schließlich musste ich irgendwie diese Insel erreichen, die nach Leben roch.

Im Morgengrauen machte ich also die Leinen los und blickte ein letztes Mal
zurück in den Hafen. Enttäuscht hob ich die Hand zu einem letzten Gruß und
ließ sie kraftlos auf halbem Weg wieder sinken.
So fuhr ich hinaus auf das offene Meer. Die See war rau und der Himmel düster
und Wolkenverhangen. Wind peitschte die Wellen und blähte die Segel auf
und die Möwen, die mich anfangs noch begleitet hatten, waren längst außer Sicht.
Nun war ich also auf mich allein gestellt.

Der Tag wollte nicht erwachen.
Die Wolkendecke war schwarz. Wind und Regen peitschten mir ungnädig ins Gesicht
und dennoch war ich froh, in diesem Boot zu sitzen, das den Wellen folgte,
und bedrohlich schaukelte. Ja, ich hatte Angst. Konnte kaum die Hand vor den Augen sehen,
so heftig weinte der Himmel. Die Welt um mich wirkte feindselig.
Wollte sie mir Angst machen? Wollte sie mich zum Umkehren animieren
oder was sollte ich von dieser Prüfung halten? Nein – ich würde nicht umkehren,
denn ich wusste genau, dass nach diesem kalten Regen, nach diesem Sturm
und diesem schwarzen Wolkenmeer irgendwo die Sonne wartete.
Ich wusste, sie würde mich finden – früher oder später. Ich wusste es einfach….

Tagelang blieb das Wetter unverändert und ich hatte Mühe den Kurs zu halten.
Meine Kraft ließ mit jedem weiteren Tag nach. Ich war durchnässt und erschöpft,
und die Segel vom Sturm zerrissen. Ich kam nicht mehr vorwärts, so erschien es mir,
doch ich wusste, dass ich nicht aufgeben dürfte.
Nein – nicht aufgeben, irgendwann findet dich die Sonne - so machte ich mir
immer wieder selbst Mut, auch wenn es sinnlos schien.
Und Plötzlich – während ich zusammengekauert, mit schweren Gliedern unter dieser
dünnen Plane hervorlugte, die mich schützen und das Unheil von mir abhalten sollte,
sah ich es….
Ein großes, schneeweißes Schiff war wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht – an Bord
ein paar warme Sonnenstrahlen, die mir nun aufmunternd zuwinkten – Augenblicklich
erwärmten sie mich und zauberten ein unendlich dankbares, glückliches Lächeln in meine Augen.
Sie umarmten mich und hoben mich aus meiner kleinen Nussschale heraus, hinauf auf das Schiff.
Ich konnte es kaum fassen und überglücklich, erleichtert, und mit neuem Mut ging die Fahrt
weiter in Richtung Sonne und jeden Tag fanden sich mehr und immer mehr Sonnenstrahlen an Deck
des Rettungsschiffes ein.

War es Glück? War es Zufall? Oder war es ein kleines Wunder, dass man mein kleines Boot auf dem riesigen, brausenden Ozean erblickt hatte?


© Birgit Lüers

---

Weniger ist oft mehr

---