Blaues Licht, es rast im Kreis Schnee bedeckt die Straßen weiß still die Nacht noch vor Minuten alle müssen sich jetzt sputen Helfer an der Unfallstelle Adrenalin in Lichtes Grelle
Blutgetränkt jetzt rot der Schnee traumatisiert daneben steh'
Blech zerknüllt im Graben dort Lebensgeister - alle fort -
Als Kommentatoren gewünscht: Mirko, Silent, Wolfgang
Hier haben wir zunächst einen 4hebigen Jambus, durchgängig Paareime der Form aabbbb aa aa. Bis auf Kreis [ai] und weiß [ei] sind die Endesilben sauber gereimt. Rhythmisch klasse, wenn man noch von dem (AD)RENALIN (da haben wir dann 9 Silben, beginnend auf unbetont) absieht.
Der äußeren Gestalt nach könnte es sich hier um das Abbild einer kleinen Taschenlampe handeln, vielleicht auch einer Glühbirne von einem Strahler. Auch dachte ich hierbei an einen Kolben; jedenfalls etwas, was zum Kippen neigt. Selbst an einen Lichtkegel darf man durchaus denken, der direkt das „Kippmoment“ anstrahlt.
II. Zum Inhalt (Sprache, Interpretation):
Der Titel, wohl aus dem physikalischen Spektrum, befremdet zunächst, was sicher beabsichtigt ist; erschließt sich aber, wenn man weiß, dass es sich beim Kippmoment um das maximale Drehmoment handelt. Wird dieses Moment, dieser Augenblick - im übertragenen Sinn - der Maximalspannung überschritten, kommt es zum Abfall der Drehzahl oder Spannung. Hier war wohl ein Physiker am Werk.
Schon die erste Zeile beginnt in hohem Tempo: „Blaues Licht, es rast im Kreise“; eine Unfallsituation wird plastisch vor Augen geführt. Die Helfer sind vor Ort, sie sind als erste bereits der Gefahr ausgesetzt, die Grenze ihrer Belastungsfähigkeit, eben das Kippmoment zu überschreiten.
Im zweiten Teil identifiziert sich der Leser mit dem Schreiber, findet sich selber direkt am Unfallort, steht „daneben“, sieht den blutroten Schnee und ist seinerseits in einer ungeheuren Stresssituation, infolgedessen der Kreislauf zusammenzubrechen droht. „Traumatisiert“ deutet darauf hin, dass das Kippmoment schon erreicht ist, und man selber, obgleich man nur „daneben“ steht, Opfer ist, das nun Hilfe braucht.
Im letzten Teil, nachdem die „Lebensgeister – alle fort“ sind, könnte man meinen, dass hier wegen des zerknüllten Bleches lediglich die Lebensgeister der Unfallopfer, die demnach den Unfall nicht überlebt hatten und deren Lebensenergie eben erloschen ist; doch meines Erachtens wird das offen gelassen. Denn wenn sämtliche Helfer und Umstehende sich dem Kippmoment ausgesetzt haben, waren sie alle in Gefahr, ihre Lebensgeister (Munterkeit), ihr Bewusstsein zu verlieren. Schon wegen der erhöhten Adrenalinausschüttung ist praktisch ein Kreislaufkollaps vorprogrammiert.
Sehr gut verpacktes, klein gefaltetes Werk, dass in seiner (Neben)Wirkung nicht daneben zielt. Man sollte selbst als bloßer neugieriger Zuschauer eines Unfallgeschehens vorher den Arzt um Rat fragen, ob man dem Stress auch gewachsen ist.
Aufgrund des Titels tippe ich auf den Physiker Arne.
Sollte ich daneben liegen, lag’s am Kippmoment, was wiederum das Adrenalin auslöste, das von meinen Nebennieren ausgestoßen wurde, weil ich nicht sicher war, was dann den ganzen Stress erzeugte.
von Mirko --------------------------------------------------------------------------------
Kommentar 2
Obwohl nicht beabsichtigt (oder doch), ein optisch sehr schön präsentiertes Gedicht. Die Gesamt-Form der Zeilen lässt mehrere Deutungen zu.
Der Übergang von den längeren zu den kürzeren Zeilen führt beim Lesen zu einem Tempowechsel, der durch den Begriff Adrenalin gestartet und erst durch das Wort Lebensgeister wieder gebremst wird. Liest man die kürzeren Zeilen staccato, ist man fast live der dramatischen Szene zugeschaltet. Auch mit wenigen Worten wurde hier ein komplettes Bild erstellt. Ich sehe die Unfallstelle direkt vor mir und frag mich jetzt, warum liegt sie an einer Kreuzung mitten im Wald, obwohl beides nicht erwähnt wurde.
Blaues Licht, es rast im Kreis Schnee bedeckt, die Straßen weiß still die Nacht noch vor Minuten alle müssen sich jetzt sputen
Helfer an der Unfallstelle Adrenalin in Lichtes Grelle Blutgetränkt jetzt rot der Schnee Traumatisiert daneben steh'
Blech zerknüllt im Graben dort Lebensgeister - alle fort -
...würde für mich fast Stefanie in Frage kommen.
Ein schreckliches Geschehen bis zur Endkonsequenz eindringlich beschrieben. Verse in klarer, kaum interpretierbare Bildsprache lassen den Leser durch die Augen der betrachtenden Schreiberin / des Schreibers sehen. Sehr guter Aufbau. Spannungsgeladen die erste Zeile => Szene im Stroboskop des Blaulichts. Einführung in das Geschehene => die verschneite, ruhig daliegende Straße Zurück zur Hektik der Unfallstelle und langsamer Schwenk - hin zur schrecklichen Auflösung.
Für mich wie das Drehbuch zu einem Film, der sich in meinem Kopf abspielt.
Die Metrik der (nach obiger Version) Strophe 2 läßt, mit einer Silbe mehr in der jeweils zweiten Zeile, etwas zu wünschen übrig. Könnte das evtl. der Grund für die asymmetrische Anordnung der Zeilen sein? Ich verneine das für mich jetzt einfach, weil die gewählte Wortgliederung das Ganze wesentlich eindringlicher scheinen läßt!
Und deshalb bleibe ich bei meinem ersten Gedanken: Stefanie
von Rainer/silent ---------------------------------------------------------------------------------------
Na dann will ich mal... mich zuerst bedanken für die ausführlichen und aufschlussreichen Kommentare! Und dann (etwas ausführlicher als beim letzten Gedicht, bei dem ich noch zu benommen war vom Tod meiner Mutter) Stellung dazu nehmen.
Mirko... Ich hab deine Gedanken unheimlich gerne gelesen und bin wieder mal sehr beeindruckt von deiner Interpretation und wenn ich sehe, wie intensiv du dich mit meinen Zeilen befasst hast. Angefangen beim Titel und dort nach deiner Reise durch die Zeilen auch wieder aufgehört.
Den Titel hatte ich damals (das Gedicht hab ich vor gut einem Jahr geschrieben) bewusst so gewählt, dass er nicht gleich verrät worum es geht und er eben dennoch aussagekräftig den Inhalt 'darstellt'. Ein Physiker, das kann ich versichern, bin ich allerdings nicht
Die optische Form des Gedichts entstand eher zufällig und erst im Nachhinein bemerkte ich selbst, wieviele Interpretationen sie zulässt.
Folgendes hat mich sehr beeindruckt:
In Antwort auf:Im letzten Teil, nachdem die „Lebensgeister – alle fort“ sind, könnte man meinen, dass hier wegen des zerknüllten Bleches lediglich die Lebensgeister der Unfallopfer, die demnach den Unfall nicht überlebt hatten und deren Lebensenergie eben erloschen ist; doch meines Erachtens wird das offen gelassen. Denn wenn sämtliche Helfer und Umstehende sich dem Kippmoment ausgesetzt haben, waren sie alle in Gefahr, ihre Lebensgeister (Munterkeit), ihr Bewusstsein zu verlieren.
....denn genau das war meine Absicht, meine Intention
Ganz lieben Dank für deinen Interessanten Kommentar und ich hoffe, ich hab dir nicht zuuu viel Stress erzeugt!
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Wolfgang auch dir meinen herzlichen Dank! dich hab ich als Kommentator ausgewählt, weil ich mir einen schriftlichen Kommentar von dir gewünscht hab. Deine ausführliche Meinung zu einem meiner Gedichte die ich sonst höre, wollte ich einfach mal lesen.
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Rainer, danke auch dir für deine Ausführlichkeit! Nein, die unsaubere Metrik war nicht der Grund, dass ich die Zeilen so angeordnet hab Den Patzer (der ja auch dir Mirko, aufgefallen war) hab ich natürlich bemerkt, aber manchmal - ob das nun richtig oder gut ist oder nicht, gestehe ich mir solche Fehltritte zu, nehme sie bewusst in kauf. An diese Stelle musste das Wort Adrenalin einfach hin - so, und nicht anders. Die Ursprungsversion des Gedichts war:
-Blaues Licht- es rast im Kreis -Schnee bedeckt- die Straßen weiß -still die Nacht- noch vor Minuten -alle müssen- sich jetzt sputen
-Helfer an- der Unfallstelle -Adrenalin- in Lichtes Grelle -Blutgetränkt- jetzt rot der Schnee -Traumatisiert- daneben steh'
-Blech zerknüllt- im Graben dort -Lebensgeister- alle fort
wie bereits erwähnt - vor ca. einem Jahr so geschrieben. Als ich die Tage nach einem bisher unveröffentlichten Gedicht in meinem Ordner suchte und über diese Zeilen stolperte, gefiel mir die Form überhaupt nicht mehr aber gerade der untere Teil musste für meine Begriffe so stehn bleiben, um eben die Dramatik an den Leser zu bringen. ...was mir euren Kommentaren nach zu urteilen, gelungen zu sein scheint und das freut mich!
Wow, hab ich da mal daneben getippt, sogar weit daneben...
Kippmoment ist dir jedenfalls super gelungen. Je mehr man sich damit beschäftigt, desto mehr erzählen einem die Zeilen; und das ist nicht immer in Worte zu fassen.
Ich hatte noch nicht mal das Farbenspiel von blau, weiß, rot, schwarz, das grelle Licht selbst in seiner Wirkung auf den Leser erwähnt.
Auch fand ich das Adrenalin nicht wirklich störend, denn Stresshormon aus dem Nebennierenmark hätte sich tatsächlich blöder angehört und hätte das Bild verzerrt.
Nein, so viel Freiheit muss sein. Man stolpert und sucht nach dem Stolperstein, und merkt, da gehört er hin. Man muss eben achtsamer lesen und über die Zeilen gehen.
Dann freue ich mich, dass es gelungen ist, dich zu überraschen... bzgl. des Autors
In Antwort auf:denn Stresshormon aus dem Nebennierenmark hätte sich tatsächlich blöder angehört
..... je wirklich - das hätte doof geklungen und ebenso doof ausgesehn...
und etwas hatte ich noch vergessen:
Zitat von WolfgangIch sehe die Unfallstelle direkt vor mir und frag mich jetzt, warum liegt sie an einer Kreuzung mitten im Wald, obwohl beides nicht erwähnt wurde.
vielleicht weil sich dieses Szenario (in meinem Kopf) auch tatsächlich mitten im Wald abgespielt hatte!
...hatte auch Dich, liebe Biggi im Visier. Nur die Tatsache, dass auch Wolfgang als Kommentator erwünscht war, ließ mich den Gedanken wieder streichen.
Wenn ich Deine Urfassung jetzt so lese kommt es mir gar vor, als hätte ich das bei Dir schonmal irgendwo früher gesehen. Kann das sein? Bin nicht ganz sicher. Kann natürlich auch daher rühren, dass ich mich relativ intensiv damit auseinander gesetzt habe.
Wußte denn Wolfgang davon? Weil er in seinem Kommentar keine/n Verfasser/in benennt. Oder wird uns da etwas vorenthalten??? Könnten wir da mal noch was drüber erfahren?
Ansonsten: War ne schöne Erfahrung!
Schönes Wochenende!
Herzlichst silent
Wirklich reich ist wer mehr Träume in seiner Seele hat als die Realität zerstören kann
Dass es von mir ist, wusste er, Rainer. War schwierig bis unmöglich, ihm das zu verheimlichen, weil wir uns ja sonst immer über diese Dinge austauschen. Seinen Kommentar hab ich dann aber erst zu Gesicht bekommen, als er ihn hier eingestellt hatte.
Ob du das Gedicht schon mal irgendwo gelesen hast....? Ich glaube kaum. Wüsste nicht, dass ich es schon mal irgendwo veröffentlicht hatte. Ein ähnliches aber. Eins mit der gleichen Thematik... vielleicht meinst du das?
Die letzte Fahrt (Blauer Nebel)
In kaltschwarzer Nacht und Disco-Musik schwimmt Leichtsinn im Rot ~ Flackerndes Blau das den Nebel bricht spricht leise von Tod ~ Mahnendes Braun wird weinend gepflanzt in schmerzlicher Not
...und mir fiel grad ein, dass es möglich sein kann, dass ich 'Kippmoment' evtl. damals in der Autorenstadt veröffentlicht haben könnte... weiß es aber auch nimmer genau