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 Rose
Rose Offline


Amateur

Beiträge: 67

18.03.2008 12:24
Sie und ich Antworten
Sie und ich

Vor einigen Wochen hatte ich einen sehr intensiven Traum. Er hat mich sehr bewegt. Das Wesentliche darin ist mir noch heute so genau in Erinnerung, als hätte ich es erst letzte Nacht geträumt. Es wirkt weiter in mir, und ich hoffe, noch lange.
Ich sah mich selbst auf einem freien Platz vor der Universität stehen mit einem Buch und meiner Collegemappe im Arm. Ich trug einen braunen Hosenanzug und dazu einen orangefarbenen Pullover. Beides passte gut zu meiner Ponyfrisur mit den weißen Haaren.
Mir gegenüber stand eine Frau, die meine Größe, meine Figur, meine Haarfarbe und mein Alter hatte. Aber ihr Outfit war total verschieden von dem meinen. Sie wirkte extravagant und exotisch. Ihre Haare trug sie zu mehreren kleinen Zöpfen geflochten, die von bunten Bändchen gehalten waren. Ihr Gewand war eine Art langer grüner Kimono, bestickt mit gelben, roten und blauen Blütenmotiven. In ihrer Hand mit den bunt lackiertenFingernägeln hielt die Fremde eine Zigarettenspitze. Während sie genussvoll rauchte, stellte sie mir die Frage, ob ich in der Nähe ein hübsches Restaurant kenne; sie habe bis zur nächsten Vorlesung eineinhalb Stunden frei. Ich beschrieb ihr den Weg zu einem netten Bistro, das an einem Weiher ganz nahe beim Universitätsgebäude liegt. Daraufhin fragte sie mich, ob ich sie nicht begleiten wolle. Da mir die seltsame Dame sympathisch war und ich auch eine Freistunde hatte, willigte ich ein; und wir gingen gemeinsam zu dem Bistro, wo wir draußen sitzen konnten.
Natürlich kamen wir während des Essens ins Gespräch, in ein sehr angeregtes sogar. Die Dame war nicht nur in ihrem Äußeren überaus exotisch, fremdartig und interessant anmutend, sondern auch in dem, was sie im Gespräch von sich preisgab. Sie unterschied sich diametral von mir und den Menschen, die ich zu meinen Freunden zählte.
Die einzigen Gemeinsamkeiten, die ich zwischen uns sah, waren neben Alter, Größe,Figur und Haarfarbe eine über dem Durchschnitt liegende Intelligenz und die Freude am Studium. Und das in einem Alter, in dem man normalerweise nicht mehr studiert. Wir taten es allerdings auch beide aus Liebhaberei. Nur eine Fachrichtung hatten wir gemeinsam belegt, nämlich Literaturwissenschaften; aber nur eine einzige Vorlesung besuchten wir gemeinsam. Therese - wir nannten uns schon bald beim Vornamen - studierte Kunst, Ägyptologie und Archäologie; ich hatte mich für für Psychologie, Psychotherapie und Philosophie entschieden. Als ich die Psychologie erwähnte, kam mir flüchtig der Gedanke, dass es wohl etwas zu bedeuten habe, dass mein zweiter Vorname auch Therese ist. Aber ich hing dem nicht weiter nach. Bei diesem ersten gemeinsamen Mittagessen sprachen wir auch über unsere Hobbies. Meine sind Schreiben, Theaterspielen und Singen in einem Chor, ihre Malen, Bildhauerei und "Leute provozieren". So nannte sie es wörtlich. Davon konnte ich mich auch bald während unserer gemeinsamen Literaturvorlesung überzeugen. Sie beteiligte sich ausgesprochen gern an Diskussionen. Ich tat das auch, aber nur, wenn ich sicher war, einen konstruktiven Gesprächsbeitrag leisten zu können. Therese war da ganz anders. Sie hatte Spaß daran, der "advocatus diaboli" zu sein, vertrat einen Standpunkt, der das Gegenteil von dem behauptete, was der Professor gerade vorgetragen hatte, und löste dadurch heftigsten Widerspruch und erregte Debatten aus. Ihr vorgetragener Standpunkt stützte sich nicht auf Fachwissen, vielmehr sollte er die Diskussion farbig gestalten und die Teilnehmer möglichst aus der Reserve locken. Therese formulierte den Widerspruch auf intelligente Art. Sie verstand es, die Zuhörer so zu manipulieren, dass sie zumindest die Möglichkeit einräumten, die Einwände seien zu Recht erhoben worden. Ich hätte nie gewagt, mich so zu verhalten. Zum einen fehlte mir das nötige Wissen; das hatte sie allerdings auch nicht. Zum anderen erschien es mir nicht fair, andere in der Weise zu verunsichern. Wenn ich das Threse entegegen hielt, bekam ich zur Antwort:" Es macht mir Spaß, und die Welt wird farbiger und für alle weniger langweilig dadurch."
Ihre Bilder entsprachen dem, was Therese sagte. Sie waren bunt; und in die Harmonie der Motive,der Pinselstriche oder der Linienführung war immer ein ins Auge fallender Fehler eingebaut. Mit ihren Skulpturen, die sie aus metallischen Abfallprodukten herstellte, verhielt es sich genau so. Diese bewusst eingebauten Fehler oder Disharmonien verhinderten oftmals den Verkauf eines Bildes oder einer Plastik. Doch das machte Therese nichts aus. "Vollkommenheit ist langweilig", sagte sie, "dafür ist mir mein Leben zu schade." Auch hierin war sie gänzlich anders als ich. Ich bemühe mich noch immer, obwohl ich schon eine ganze Menge Ballast als überflüssiges Ergebnis einer allzu korrekten Erziehung bewusst abgeworfen habe, alles, was ich tue, möglichst fehlerfrei zu machen. Therese hat mir oft gesagt, dass mein Ballastabwerfen nicht genug sei. "Fast alles, was man dich gelehrt hat, musst du hinter dir lassen," meinte sie. "Dann wirst du frei, das zu tun, was du wirklich willst. Und erst dann bist du ganz du selbst." Bei solchen Äußerungen war ich skeptisch; dennoch brachten sie mich zum Nachdenken.
Therese war ganz sie selbst, das spürte ich. Ich musste sie nur ansehen, wie sie sprach, wie sie gestikulierte, wie sie aß und trank, um zu wissen, dass diese Frau glücklich war. Glücklicher als ich: und ich hatte doch im Laufe der Jahre so viel erreicht in dieser Hinsicht. Ich hatte mir viele lang gehegte Wünsche erfüllt: die Wünsche , Theater zu spielen, zu schreiben und noch einmal zu studieren. Ich hatte es geschafft, mich von Menschen zu trennen, in deren Gesellschaft ich vollkommen nutzlos meine Zeit verschwendet hatte. Ich gestaltete mir den Tag nach meinen eigenen Bedürfnissen. Dennoch glaubte ich, weniger frei und froh zu sein, als Therese es war. Woran lag das? Verklemmt war ich in keiner Weise; das wusste ich sicher. Ich hatte im Laufe der Jahre so viel Selbstbewusstsein erworben, dass ich meinem inneren Gespür vertrauen und mir meine eigenen Wünsche bezüglich Lebensführung erlauben konnte, soweit es in meiner Macht stand. Das tat ich auch. Und dabei gab es nur eine einzige Einschränkung: es durfte nie auf Kosten anderer geschehen. Diese Einstellung hielt ich immer noch für richtig. Und dennoch war ich ins Grübeln geraten durch Therese. Oder dank Therese?
War ich vielleicht doch noch nicht ganz ich selbst?
Ich traf mich oft mit meiner neuen Kommilitonin; wir hattn Spaß zusammen und führten lange intensive Gespräche. Unsere Verschiedenartigkeit im Aussehen, im Kontakt zu anderen Menschen und im Umgehen mit den Dingen,z.B. wie wir uns kleideten, änderte sich nicht. Und doch hatte ich zunehmend das Gefühl, dass wir uns irgedwie ergänzten. Ich glaube, Therese empfand das ähnlich; denn auch sie fühlte sich stark zu mir hingezogen. Sie suchte meine Nähe, genau wie ich die ihre. Unseren ganz und gar unteschiedlichen Hobbies ging jede von uns weiterhin mit aller Vehemenz nach. Beide lebten wir unser eigenes Leben; aber wir erspürten die jeweils andere als Bereicherung des eigenen Daseins.
Immer wiedr grübelte ich darüber nach, wie es möglich war, dass diese mir so wesensfremd erscheinede Frau mir trotz aller Unterschiede irgendwie vertraut war. Und dann kam ich zu der Erkenntnis: Therese ist mein Alter Ego!
Ja, das würde vieles erklären! Als mein zweites Ich, als meine ungelebte, schillernde Seite musste sie mich anziehen, mich Defizite entdecken und Sehnsüchte in mir erwachen lassen. Vielleicht fehlte Therese ebenfalls etwas. Etwas, das ich hatte. Vielleicht sah sie auch in mir die ungelebte Seite ihrer Persönlichkeit. Möglicherweise hatten nicht nur ihre strahlende Exotik und Exzentrizität mich beeinflusst, sondern auch meine weniger auffallende Persönlichkeit hatte etwas in ihrem Innern bewirkt. Schön, wenn es so wäre! Es wäre ein weiterer Schritt auf dem Wege zu einem harmonischen Charakter, wenn die vertraue Seite des Ich sich der etwas fremderen, aber doch existierenden, annähern könnte.
Und diese Quintessenz meine Grübelns hat ein Traum bewirkt, ein Traum, den ich nimals vergessen werde. Er hatte zur Folge, dass ich bei allen wichtigen Entscheidungen, die ich zu treffen habe, mehr noch als sonst in mich gehe und mir die zusätzliche Frage stelle: "Wie würde Therese in diesem Fall handeln?"
Und ich wäre froh, wenn die geträumte Therese sich in solchen Situationen fragen würde: "Und wie hätte Rosemarie sich in meiner Lage verhalten?"
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